von Heinz R. Unger und den "Schmetterlingen"
Regie: Christine Eder
Darsteller: Bernhard Dechant, Claudia Kottal, Tim Breyvogel
Ausstattung: Monika Rovan
Video: Philipp Haupt
Musikalische Leitung: Gustav , Knarf Rellöm
Mitarbeit: Anna Laner
Wissenschaftliche Beratung: Lukas Franke, Mario Matzer
Geschichte wird nicht nur gemacht, Geschichte wird auch geschrieben – und zwar zumeist nicht von den Armen,
Unterdrückten und Mittellosen, sondern von jenen, die zumindest keine Gegner der herrschenden Macht sind.
Der "Geschichte der Herrschenden" eine "Geschichte der Beherrschten" gegenüber zu stellen, das war der
Anspruch des Autors Heinz R. Unger und der Band "Schmetterlinge", als sie bei den Wiener Festwochen 1976
ihre "Proletenpassion" vorstellten. In insgesamt 65 Liedern wird die Geschichte der letzten 500 Jahre als
eine Geschichte der Klassenkämpfe erzählt, an deren vorläufigem Ende nicht unbedingt der Sieg der Arbeiterklasse
steht.
Knapp 40 Jahre später macht sich Regisseurin Christine Eder gemeinsam mit Heinz R. Unger, Gustav und Knarf
Rellöm daran, die Geschichte der Proleten erneut und aus zeitgenössischer Sicht zu untersuchen und bis in die
Gegenwart weltweiter Proteste von Occupy bis Gezi fortzuschreiben: Wann kommt die Revolution? Kommt sie überhaupt?
Können wir die Geschichte noch immer als Abfolge von Klassenkämpfen lesen? Die "Proletenpassion 2015 ff."
untersucht klassisch marxistische Geschichtsauffassung aus einer postmarxistischen, zeitgenössischen Perspektive –
und wagt am Ende keinen Ausblick, sondern eine Bestandsaufnahme der Gegenwart.
Spezial:
– Nach der Vorstellung am 24.01. Publikumsgespräch mit Christine Eder und den beteiligten KünstlerInnen.
– Stückeinführung vor der Vorstellung am 27.02. um 19.00 Uhr.
Ratlosigkeit, endlich einmal Mut zur klaren politischen Haltung (...)! nachtkritik.de
So sitzt man zufrieden in einer fetzigen, retrochicen Veranstaltung. Michaela Mottinger
Was den Abend wirklich groß macht, ist die Musik von Eva Jantschitsch und ihrer Band. Sie ist intensiv,
expressiv, ja, auch pathetisch (...) Besonders packend: der sich fortwährend steigernde Monoton-Beat à
la Velvet Underground in der "Ballade vom Glück und Ende des Kapitals". Die Presse
Wohltuend ist (...), dass dem angestaubten Stoff viel Witz eingeimpft wurde, etwa mit einer Rede des
von der Krise beleidigten "Marktes". Kurier
Christine Eder hat sich die heimische Musikerin Gustav und den deutschten Elektroniker Knarf Rellöm ins
Boot geholt, eine kluge Entscheidung: Die beiden lassen sowohl das Original anklingen, machen den Sound
aber poppig-zeitgemäßer. Profil
Eva Jantschitsch, als Kunstfigur Gustav eine Größe der Wiener Indiepop-Szene, hat, gemeinsam mit Knarf Rellöm,
einem Vertreter der sogenannten Hamburger Schule, die Originalmusik der Klassenkampf-Kanzonen "entschlackt"(...).
Und wenn sie mit ihrer kehligen, leicht brüchigen Stimme einsam die Melodie übernimmt, dann wird der
domestizierte, mehrstimmige Schönklang der Schmetterlinge zur existenzialistischen Selbstbefragung mit
ungewissem Ausgang. Die Zeit
Das Bühnenbild ist minimal, die Requisiten hingegen sind gigantisch: Riesige rote Fahnen werden so
heftig geschwenkt, dass sie über den Sitzreihen der Zuschauertribüne flattern. Die gesamte Rückwand
bis hinauf zur Decke wird von Schriftbannern verdeckt, die revolutionäre Slogans hämmern. "Euer
Reichtum ist unsere Armut", verkündet einer. Es ist armes Theater, ganz im Sinne von Jerzy Grotowski,
bei dem eine Pappkrone monarchistische Macht versinnbildlicht und eine schlichte Perücke das
blutsaugerische Feudalistenpack.
Man kann sich durchaus vorstellen, dass jetzt gleich die Originalbesetzung der Musikgruppe Schmetterlinge,
einst die Hauskapelle der linken Szene, diese Bühne kapert und mit fünfstimmigem Satzgesang und
plinkernder Mandoline einen Hymnus auf die Verdammten dieser Erde anstimmt: "Was sich bis heute
nicht geändert hat, das kann sich sehr schnell ändern, einem einigen Volk gehört sein Staat, das
gilt in allen Ländern."
Doch dann legt die Musik bei diesem Widerbelebungsversuch des vierzig Jahre alten Revolutionsoratoriums
Proletenpassion tatsächlich los, und alles ist ganz anders: Das Schlagzeug trommelt schweren
Beat, manchmal wird er auch auf ein Ölfass gehämmert und treibt die Stücke vor sich her.
Verzerrte Gitarren kreischen auf und mischen sich in elektronische Schlieren aus dem Synthesizer,
schließlich trötet eine Trompete, die wie ein fernes Echo aus New Orleans klingt. Manchmal
blitzen zwar noch die alten Melodien im Weill- und Eisler-Sound durch, die man aus der originalen
Proletenpassion noch im Ohr hat – wie eine alte Schrift auf einem Palimpsest. Doch der Gesamtsound
ist so düster, wie der revolutionäre Elan von einst heute desillusioniert ist.
Die Proletenpassion 2015 ff., die am 22. Jänner im Theater Werk X im ehemaligen Arbeiterbezirk
Meidling Premiere feiert, verwaltet ein fast überlebensgroßes Erbe. Eva Jantschitsch, als
Kunstfigur Gustav eine Größe der Wiener Indiepop-Szene, hat, gemeinsam mit Knarf Rellöm, einem
Vertreter der sogenannten Hamburger Schule, die Originalmusik der Klassenkampf-Kanzonen "entschlackt",
wie sie selbst sagt. Und wenn sie mit ihrer kehligen, leicht brüchigen Stimme einsam die Melodie
übernimmt, dann wird der domestizierte, mehrstimmige Schönklang der Schmetterlinge zur
existenzialistischen Selbstbefragung mit ungewissem Ausgang. "Ich habe versucht, den Kern der
Komposition zu bewahren, und das weggeschmissen, was unbrauchbar ist für eine leidenschaftliche
Darbietung des Inhalts", sagt Jantschitsch. "Ich glaube, dass es wichtig ist, da mit Energie
ranzugehen. Da muss man manchmal ein bisschen etwas wegkehren – die ganzen Bach-Etüden, die
Zitate von Queen bis Ennio Morricone."
Das ursprüngliche Werk, geschaffen von dem Dichter Heinz R. Unger und den Schmetterlinge-Mitgliedern
Willi Resetarits und Georg Herrnstadt und bei den Wiener Festwochen 1976 uraufgeführt, gilt
bis heute als Opus magnum einer linken Musikszene, in der Bands wie Floh de Cologne, Ton,
Steine, Scherben oder Lokomotive Kreuzberg den Klassenkampf auf der Rockbühne zelebrierten.
Die Proletenpassion, damals in einer eleganten roten Box auf drei Langspielplatten veröffentlicht,
war das mit Abstand ambitionierteste Projekt aus dieser Zeit: eine Geschichte der Klassenkämpfe
aus Sicht der Unterdrückten, beginnend mit den Bauernkriegen über die Französische Revolution,
die Pariser Kommune und den Faschismus bis zur Gegenwart vor vier Jahrzehnten. Der Songzyklus
war ein Kompendium des historischen Fachwissens der Linken, in langen, erbitterten Diskussionen zur politischen Haltung zugespitzt und anschließend von Textdichter Unger in knackige Lieder übersetzt. Die Proletenpassion lieferte vielleicht jenen entscheidenden Impuls, der zur Besetzung des Schlachthofgeländes Arena führte, wo damals die Alternativveranstaltungen der Festwochen stattfanden – es war die vielleicht bis heute bedeutendste gegenkulturelle Manifestation in der Zweiten Republik. Danach stürzten sich linke Musik- und Geschichtelehrer auf das Stück und versuchten, damit ihren Unterricht aufzumöbeln. Generationen von Schülern können heute noch ein Lied davon singen – wahrscheinlich das Jalava-Lied, in dem die Reise von Revolutionsvater Lenin nach St. Petersburg schön schunkelig besungen wird.
Es gab kaum ein Audimax im deutschsprachigen Raum, in dem das rote Singspiel mit der schönen
Aufforderung "Auf Lenin einen heben!" nicht zum Besten gegeben wurde. Statt Zugaben gab es Diskussionen,
bei denen Trotzkisten, Maoisten, Altstalinisten, orthodoxe Parteikommunisten und undogmatische
Linke übereinander herfielen und ihre jeweilige Ideologie aus diesem Alten Testament des Politfolk
herauszulesen versuchten.
"Alle wollten sich die Proletenpassion unter den Nagel reißen," sagt Heinz Unger, der nun auch
bei dem neuen Projekt wieder mit dabei ist und die Geschichte mit aktuellen Liedtexten bis in
die neoliberale Gegenwart weitergeschrieben hat. "Wenn es damals nach den Maoisten gegangen wäre,
hätte das eine Art Pekingoper werden sollen. Ich kann mich noch gut an den Dichter Robert Schindel
erinnern, der damals sehr stark diese Linie vertreten hat. Und die anderen Fraktionen hatten
auch ihre Wünsche, Vorstellungen und Kritikpunkte. Manchen war der Begriff Passion im Titel zu
religiös für ein sozialistisches Projekt, andere wollten nicht, dass wir vom kleinen Mann sprachen.
Der Prolet, das sei kein kleiner, sondern ein starker Mann."
Mit solchen Problemen müsse sie sich nicht herumschlagen, sagt Regisseurin Christine Eder, auf
deren Initiative die Neuauflage der Proletenpassion zurückgeht. Sie ist eine Spezialistin für
schwierige Stoffe. Beispielsweise hat sie im vergangenen Jahr mit Erfolg den eigentlich unspielbaren
Prosatext Unendlicher Spaß von David Foster Wallace in eine unterhaltsam-hysterische Textrevue
verwandelt. Dass sie sich mit der Proletenpassion an einer heiligen Kuh versucht, ist Eder völlig
bewusst. Und dass sich nunmehr die Zeiten völlig gewandelt haben, auch: "Die Möglichkeit einer
Revolution ist heute ja nicht mehr wirklich gegeben. Damals haben die Leute in der linken Szene
ja wirklich noch daran geglaubt. Das heißt: Ein gewisses Pathos, das die Proletenpassion durchweht,
diese Vorfreude auf eine umfassende gesellschaftliche Umwälzung verbietet sich aus heutiger Sicht.
In gewisser Hinsicht ist der Feind als fassbare Größe abhandengekommen. Dafür sind die Zeiten
heute zynischer und abgebrühter geworden."
Auch das Publikum, sagt Heinz Unger, habe sich völlig verändert. Das linke politische Milieu,
in dem sich die Schmetterlinge bewegten wie Fische im Wasser, existiere nicht mehr, genauso
wenig wie die Universität ein Ort des Freidenkertums sei. "Für uns hat das zur Folge, dass wir
dem Publikum viel mehr erklären müssen. Dinge, die früher jeder selbstverständlich wusste,
politische Sachverhalte, eine bestimmte Begrifflichkeit, welche die Proletenpassion durchzieht,
das alles muss heute erst ins Bewusstsein gebracht werden. Man ist vielleicht weniger anfällig
für ideologische Scheuklappen. Aber zur gleichen Zeit einem gewaltigen Manipulationsapparat
ausgesetzt, oft ohne es zu merken."
All dies wirkt auf die Inszenierung. Die Schauspieler Claudia Kottal, Bernhard Dechant und Tim
Breyvogel, die noch nicht geboren waren, als die Proletenpassion uraufgeführt wurde, spielen
bei allem darstellerischen Engagement die historische Distanz mit. Pathosformeln, welche die
ursprüngliche Version des Stückes prägten, werden als übertrieben emotionale Ausstülpungsgesten
ironisch kenntlich gemacht. Die manchmal krachende, um nicht zu sagen krachlederne Komik des
Originals wird dabei auf den coolen Kammerton und die ironische Anspielungskultur des
Internetzeitalters heruntergebrochen. Das geht bis in die Feinheiten des Dialoges. "Wenn sie
kein Brot haben, sollen sie doch Burger essen", heißt es einmal in Anspielung auf einen berühmten
Satz von Königin Marie-Antoinette. An anderer Stelle wird die aufklärerische Intention ein
wenig plump ins Hier und Heute gehievt: "Thomas Münzer, das war der Führer der Bauern. Googelt
das einmal!" Manchmal treten die Darsteller wie TV-Reporter auf, die von Kriegsschauplätzen
berichten, dann wiederum wie rotzige Ignoranten, welche die ganze Wortwahl der Proletenpassion
auf den Prüfstand stellen.
Bernhard: "Heute werden wir die Geschichte von unten erzählen. Richtig von ganz unten. Vom Kampf
zwischen den Klassen."
Tim: "Den Begriff Klasse gibt’s doch heute gar nicht mehr. Arbeiterklasse – das ist doch ..."
Bernhard: "Aber A-Klasse kenn ich. Und Steuerklasse A vielleicht ..."
Tim: "Proletenpassion! Was ist denn ein Prolet ...?"
Bernhard: "Jemand mit einem schlechten Kleidergeschmack?"
Solch ein gelegentliches Durchbrechen der vierten Wand sei notwendig, um die Proletenpassion in
eine desillusionierte Gegenwart herüberzuholen und vom Patschuligeruch und den Latschen der 1970er
Jahre zu befreien, meint Regisseurin Eder. "Wir interpretieren ein Werk, es ist auch nicht unbedingt
unsere Ideologie, die man da auf der Bühne sehen kann. Der Zugang ist eher, Geschichte zu erzählen,
als unsere Geschichte zu erzählen." Trotzdem wolle man natürlich schon eine Haltung zum Ausdruck
bringen und die richtigen Fragen stellen: Sind Maidan, Gezi-Park, Occupy oder die
Antiglobalisierungsbewegung nur politische Nischenprojekte, oder können sie auf globaler Ebene
rebellische Kraft entfalten? Gibt es in einer Zeit, in der selbst die Kritik am Kapitalismus zum
Geschäft gemacht wird, noch einen gesellschaftlichen Ort für wirkungsvolle dissidente Haltungen?
"Die letzte Station heißt jetzt: Die Lehren, die der Markt aus den vorhergegangenen
sozialrevolutionären Aufständen gezogen hat. Ich finde den Gedanken scharfsinnig, aber es ist
ein Ende, das unglaublich deprimierend ist, deshalb drücke ich mich ein wenig davor. Denn was
früher noch gegangen ist: zu sagen, jetzt bleiben wir zusammen und besetzen die Arena, das geht
heute nicht mehr. Man muss beim Inszenieren den Zynismus gleich mitdenken: Dass der Markt all
das, was damals revolutionär war, bereits integriert hat in sein funktionierendes System." So
ist die aktualisierte Proletenpassion 2015 ff. trotz einer gelungenen künstlerischen Überführung
in die neue Zeit eines beschleunigten Lebenspulses in erster Linie ein Blick zurück in Wehmut.
Eine nostalgische Reminiszenz an eine Epoche, in der man noch von der Revolution träumen durfte
statt von elektrischen Schafen.
Die Originalversion des Stückes, das war damals wohl Jute statt Plastik. Ist die neue, entschlackte
und modernisierte Version eher Plastik statt Jute?
Darauf Gustav: "Nein, es ist Schweiß und Tränen statt Plastik."